JENSEITS DER MASKE
Die Arbeiten von Corry Siw Mirski
Von Tina Sauerländer
Ihr fleischliches Rot strotzt vor Lebendigkeit. Es ist die Farbe des Blutes, das in unseren Adern fließt. Die Einschnürungen, Nähte und Narben in den Arbeiten von Corry Siw Mirski offenbaren drastisch die Fragilität des menschlichen Körpers. In ihrer vermeintlichen Brutalität symbolisieren sie die Urangst um das körperliche Wohlergehen und die eigene Existenz. Die von der Künstlerin verwendeten Materialien sowie ihre Formensprache sind weich, organisch und natürlich. Sie kontrastieren kulturelle Konstruktionen mit rechten Winkeln, Ecken und Kanten. Corry Siw Mirski verwendet Stroh, Samen, Kirschkerne oder Zikadenhäute, die sie zusammen mit roten Farbpigmenten in Silikon eingearbeitet. Eine durchscheinende, glänzende und hautähnliche Oberfläche entsteht. Die natürlichen und verderblichen Materialien evozieren Fruchtbarkeit und Lebendigkeit genauso wie Verfall und Tod.
Die wurmartigen Objekte wie „Nullierung“ (2013), „Retorta“ (2014) oder „Underdog“ (2015) ähneln verstümmelten, hand- und fußlosen Körpern. Auch einen Schädel hat die Künstlerin nicht vorgesehen. Mit dieser symbolischen Kopflosigkeit wendet sich Corry Siw Mirski gegen Rationalität als sinnvolle Triebkraft menschlichen Handelns und umfassendes Erklärungswerkzeug für die Zustände der Welt, die in ihrer Ganzheit niemals nur mit dem Verstand erfassbar wären. Denn der Mensch schafft sich lediglich weniger komplexe, dafür aber plausible, logische Zusammenhänge und somit eine für ihn kontrollierbare, scheinbare Ordnung der Dinge. Das Ausgeliefertsein an eine nicht begreifbare und somit nicht beherrschbare Macht empfindet er als beängstigend. Der rote Faden, mit dem der „Underdog“ zusammen geschnürt ist, und die groben Nähte in anderen Arbeiten wie „Angel“ oder „Retorta I“ halten die fragilen, instabilen Wesen zusammen. Sie symbolisieren die uns jenseits unserer Wahrnehmung unbewusst lenkenden und dadurch Halt gebenden Kräfte, Handlungsmuster, Ängste oder negativen Gefühle, die die Künstlerin nun aus ihrer Verdrängung hervor holt.
Die Arbeiten mit Gesichtern, wie „Blick-Dicht“ (2015) oder „Heilige Tochter meine I + II“ (2014), beruhen oftmals auf derselben fotografischen Vorlage. Der Künstlerin geht es jedoch nicht um eine bestimmte Person. Sie sucht nicht das Innere eines Individuums an dessen visueller Oberfläche, sondern die Essenz der Existenz, die im menschlichen Antlitz zum Ausdruck kommen kann. In weiteren Bild-Objekten greift Corry Siw Mirski den Gedanken an die untrennbare Verbundenheit von Gesicht und Maske auf. In „Kirsche“ oder „Randschicht“ sind es die aus dem Silikon-Antlitz herausgeschnittenen Augen, und in der Skulptur „Stammbaum“ (alle 2015) formt die Künstlerin ein plastisches Gesicht mit Hanfhaar zu einem Kopf, so dass jenes gleichzeitig auch Maske ist. Die Verletzlichkeit und Fragilität des eigenen Körpers und die Vergänglichkeit des eigenen Selbst treten im Gesicht in besonderer Weise in Erscheinung, da hier Lebendigkeit und Endlichkeit am Stärksten mit der Wahrnehmung von persönlicher Identität verbunden sind. Mit Zeichnungen von Totenköpfen (seit 2013) und Arbeiten wie „Schädelholz“, „Übergangsgesicht“ oder „Fragiles Gleichgewicht“ (alle 2015) verbindet die Künstlerin Gesichter, Masken und Totenköpfe miteinander, die so in ihrer Trinität den Gedanken an die Endlichkeit des irdischen Lebens als Vanitas-Motiv intensivieren. Die eigene Sterblichkeit wird in unserer säkularen Konsumgesellschaft oft als beängstigender Endpunkt des individuellen Daseins wahrgenommen und – genauso wie Gefühle von Scham, Schuld oder Neid – negativ konnotiert und verbannt.
Für die Künstlerin symbolisiert die Maske (lat. persona) vor allem die selbst geschaffene Identität, die wie ein Schleier über der eigentlichen Existenz liegt. Eine Person ist, dem ursprünglichen Wortsinn folgend, nicht anderes als eine Rolle innerhalb einer Gesellschaft oder ein Charakter in einem Theaterstück. Der wahre Zugang zur Essenz des Daseins liegt für Corry Siw Mirski jenseits dieser Maske und der rational erfassbaren, äußeren Welt. Die Künstlerin spricht sich für das Anerkennen der inneren Natur und das Zulassen von vermeintlich negativen Gefühlen oder Ängsten aus. Leben und Tod sind Teile des natürlichen Kreislaufes und unauflöslich miteinander verstrickt. Der Gedanke an die eigene Sterblichkeit könnte eine Annäherung an die eigentliche, menschliche Existenz ermöglichen. Für Corry Siw Mirski liegt der Schlüssel allerdings in der vollständigen Aufgabe der selbst gewählten Identität und des Glaubens an die Gestaltbarkeit von Individualität. In Anlehnung an den französisch-litauischen Philosophen Emmanuel Levinas, der von einer Nicht-Wählbarkeit der eigenen Existenz spricht, liegt die individuelle Freiheit nicht in der (bewussten) Ausbildung der eigenen Identität, sondern im „Geschehen lassen“ und Annehmen des inneren, unwillkürlichen und naturgegebenen Selbst. Die Akzeptanz des nicht vorhandenen Einflusses auf Identität, auf (kulturell-gesellschaftliche) Lebensbedingungen oder auf den Tod als unkontrollierbare Gewalten, könnte die Urangst um das eigene Dasein nehmen. Oder wie die Künstlerin sagt: „Ich glaube, erst wenn einem die Körperlichkeit keine Angst mehr macht, ist man ganz dazu in der Lage, das Leben zu genießen.“
Corry Siw Mirskis Arbeiten erscheinen auf den ersten Blick makaber, brutal oder bedrohlich, weil sie verdrängte Ängste symbolisieren. Die Künstlerin plädiert damit für eine Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung dieser vermeintlich negativen Gefühle, um sie als normalen Teil in unser Dasein und Leben integrieren zu können. Sie denkt dabei ganz im Sinne des antiken Philosophen Epiktet: „Es sind nicht die Dinge selbst, sondern unsere Meinungen von den Dingen, die uns verunsichern.“
Über die tieferen philosophischen Hintergründe der Arbeiten von Corry Siw Mirski ist die Lektüre ihres Abschlussvortrages an der Akademie für Malerei (2015) sowie das Künstlergespräch zwischen Autorin und Künstlerin empfehlenswert.